31. Mai 2018

Tierzucht ist ein viel diskutiertes Thema, und das gilt für Schäferhunde oder Cockerspaniel ebenso wie für Rinder, Schweine und Geflügel. Dabei sind gewünschte Rassemerkmale und Leistungen das eine, das Wohlbefinden und die Gesundheit der Tiere das andere. Im Bereich der Milchviehzucht gibt es beispielsweise das deutschlandweite Verbundprojekt „optiKuh“. Die 15 beteiligten Projektpartner, darunter etwa das Institut für Tierzucht und Tierhaltung der Universität Kiel (vgl. Partnerliste1), haben sich das Ziel gesteckt, „die optimalen Bedingungen für die Milchkuh zu erforschen und in der Praxis zu realisieren.“ Neben den hier beteiligten wissenschaftlichen Einrichtungen gibt es allerdings beispielsweise mit der Welttierschutzgesellschaft e.V. oder den Landwirten auch weitere Akteure, die jeweils ihre eigene Sicht auf die Zucht von Milchkühen haben. DIALOG MILCH hat sich auf die Suche nach Perspektiven und Argumenten gemacht.

Drei Jahre lang haben sich die Projektpartner bei „optiKuh“ mit der Frage befasst, inwieweit über eine gezielte Auswahl bei der Zucht eine ausreichende Futteraufnahme und die erforderliche Stoffwechselstabilität der Tiere sichergestellt werden kann. Ein stabiler Stoffwechsel ist erforderlich, um auch bei hohen Leistungen eine bedarfsgerechte Versorgung der Tiere aus dem Futter sicherzustellen. So sollen Versorgungsdefizite vermieden werden, die in bestimmten Phasen beispielsweise bei Hochleistungskühen trotz optimaler Futterrationen auftreten können.

Projekt „optiKuh“

Stoffwechsel, Leistung und Umweltschutz

Der Fokus von „optiKuh“ ging aber noch deutlich darüber hinaus: Neben der Erhaltung der Tiergesundheit durch einen stabilen und der hohen Milchleistung angepassten Stoffwechsel standen auch die Emissionen klimarelevanter Gase auf der Tagesordnung. Neben Stickstoff und Phosphat, die über Kot und Harn der Tiere ausgeschieden werden, und den daraus resultierenden Ammoniak-Ausgasungen in die Umwelt gilt auch der Methanausstoß der Wiederkäuer als ein potenzielles Problem der Nutztierhaltung. Eine Frage im Rahmen des Projekts „optiKuh“ lautete deshalb, inwieweit die natürlichen Methanemissionen aus dem Verdauungstrakt der Milchkühe durch ein optimiertes Management und durch die Zucht vermindert werden kann, um einen Beitrag zu einer umweltgerechten Tierhaltung zu leisten.

Auch bei einem anderen Vorhaben, dem Projekt „KUHVISION“2, stehen Tiergesundheit und Leistung im Fokus. Mit den hier gewonnenen genomischen Informationen sollen die Tierhalter eine neue Managementhilfe an die Hand bekommen, die das Augenmerk bei der Zucht unter anderem auf wichtige Gesundheitsmerkmale lenkt.

Plakat zur Kampagne KUH+DU

Kritik an schlechten Haltungsbedingungen

Bei dem Blick auf Tiergesundheit, Leistung und Umwelt hat die Initiative „KUH+DU“3 der in Berlin ansässigen Welttierschutzgesellschaft e. V. eine andere Perspektive: Die erkennbare Ausrichtung auf Hochleistungszucht, die nicht artgerechte Fütterung mit einem zu hohen Anteil an Kraftfutter und schlechte Haltungsbedingungen seien die Ursache „für den generell schlechten Gesundheitszustand vieler Milchkühe.

Außerdem kritisiert der Verband, dass bei der in Deutschland üblichen Haltung von Milchkühen das Bild glücklicher Kühe auf der Weide eine Ausnahme sei. Im Gegenteil resultierten die nach Einschätzung der Welttierschutzgesellschaft teilweise sehr schlechten Haltungsbedingungen in „schmerzhaften Erkrankungen wie Zitzenverletzungen, Mastitiden (Entzündungen der Milchdrüsen) oder Klauenverletzungen“ bei den Milchkühen.

Mit der Kampagne „KUH+DU“ richtet sich die Welttierschutzgesellschaft deshalb in erster Linie an die Verbraucher: Mit der Entscheidung am Kühlregal im Supermarkt bestimmten diese jeden Tag aufs Neue, welche Form der Milchkuhhaltung mit ihrem Kauf unterstützt werde. „KUH+DU“ biete den Verbrauchern „die Möglichkeit, sich mit ihrem Einkauf bewusst für einen höheren Tierschutz zu entscheiden.“

Sind Grenzen erreicht?

Tierärzte sind per se dem Tierwohl und der Tiergesundheit verpflichtet. In ihrem beruflichen Alltag sind sie aber auch mit der Situation der Milchviehhalter vertraut. Vor diesem Hintergrund wirft beispielsweise Annegret Wagner in ihrem Beitrag auf www.wir-sind-tierarzt.de4 die Frage auf, ob sich die von den Milchkühen erwarteten Leistungen eher an der Gesundheit der Tiere oder an den wirtschaftlich immer stärker unter Druck geratenden Tierhaltern orientieren sollten. Wäre es korrekt, die Situation der Milchviehhalter zugrundezulegen und zu versuchen, „den Stoffwechsel der Kühe so zu überlisten, dass höhere Milchleistungen möglich werden?

Für Annegret Wagner ist die Antwort klar: Bei Zucht und Haltung von Milchkühen seien Grenzen erreicht. In Zeiten eines weltweit deutlich erkennbaren Überangebots an Milch sei die Notwendigkeit, die Milchleistung des Einzeltiers auf Kosten seiner Gesundheit weiter zu steigern, nicht mehr vermittelbar. Vor dieser Frage stehen aber nicht nur die Tierärzte, sondern auch die Landwirte, die mit und von ihren Tieren leben. Für die Landwirte liegt deshalb ein Mix aus …

Versuchseinrichtung in Grub mit Wiegetrögen zur Erfassung der tierindividuellen Futteraufnahme (Quelle: Hertel-Böhnke, LfL Bayern, 2018)

Tiergesundheit, Tierwohl, Leistung und Erlös aus dem Milchgeld im Fokus!

Das Wohl unserer Tiere bestimmt unser Handeln und unseren Tagesablauf“, sagen etwa die Milchviehhalter, mit denen DIALOG MILCH in den vergangenen Monaten gesprochen hat („Kinder, Kälber, Küche, Konten“ und Weniger Körper, mehr Kopf!).

Auch wenn Milchkühe heute vielfach schon nach wenigen Jahren durch die Folgegeneration abgelöst werden, gibt es genauso auch die „Champions“, die mit Lebensleistungen von mehr als 100.000 kg Milch für ein langes „Milchkuhleben“ stehen. Und das geht zweifellos nur, wenn Ernährung, Haltung und Tiergesundheit „stimmen“.

Für Milchviehhalter bleiben deshalb neben der generellen wirtschaftlichen Existenz Stichworte wie Zucht und Erneuerung der Herde, Steigerung der Milchleistung, Erhaltung von Tiergesundheit und Tierwohl sowie leistungsgerechte Fütterung tägliche Begleiter. Dabei zeigt die gerade erst im Mai 2018 von einem Discounter angekündigte Senkung des Verkaufspreises für Trinkmilch allerdings die harten wirtschaftlichen Grenzen, an die Milcherzeuger in ihrem Alltag (viel zu) häufig stoßen.

Mehr Forschung und intensivierter Wissenstransfer

Was die Ausrichtung der Tierzucht anbelangt, sieht auch die Deutsche Gesellschaft für Züchtungskunde (DGFZ) insgesamt Handlungsbedarf: Den bestehenden Herausforderungen müssten sich Vertreter von Zucht, Haltung, Physiologie und Klinik allerdings gemeinsam stellen, denn wirkliche Lösungen für diese komplexe Thematik seien nur mit interdisziplinären Ansätzen zu finden. Die angemessene Leistung des Einzeltiers bleibe dabei eine entscheidende Voraussetzung für eine effiziente Haltung von Milchkühen.

Als Kernproblem der Physiologie gilt es, künftig alle Fragestellungen der Futteraufnahme grundsätzlich zu erarbeiten, da nur eine entsprechend der Leistung gestiegene Futteraufnahme auch eine lange Nutzung der Kuh sicherstellt.“ Handlungs- und Forschungsbedarf bestehe dann aber auch dazu, die Ergebnisse aus der Wissenschaft besser in die betriebliche Praxis zu vermitteln und dort umzusetzen.5

Professor Dr. Hubert Spiekers (Quelle: Privat)

Wo kann und soll die Reise hingehen?

Die Stellungnahme der DGFZ zeigt, dass „optiKuh“ auf den ersten Blick zwar für einen Laien befremdlich klingen mag, aber einen ebenso interessanten wie breiten Ansatz verfolgt, bei dem auch Tierwohl und Tiergesundheit wesentliche Rollen spielen.

DIALOG MILCH hat deshalb bei Prof. Dr. Hubert Spiekers, dem Leiter des Institutes für Tierernährung und Futterwirtschaft der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL) in Grub, noch einmal nachgefragt. Hier lag die Gesamtkoordinierung des „optiKuh“-Projekts:

DIALOG MILCH: Ist die Hochleistungszucht bei Milchkühen heute noch ethisch und wirtschaftlich geboten?

Professor Dr. Hubert Spiekers: Voraussetzung für eine nachhaltige Milcherzeugung sind möglichst gut „passende“ und robuste Kühe. Unter passend ist hier eine gute Übereinstimmung der Bedürfnisse von Kuh, Landwirt und Verbraucher gemeint. Robust meint, dass die Tiere auf Umwelteinflüsse wie Stall, Wetter, Futter etc. flexibel reagieren können. Über die Zucht erfolgt die Auswahl der Tiere. Es fragt sich, welche Zuchtziele für die Zukunft im Vordergrund stehen sollen. Aus ethischer Sicht ist eine Überforderung der Tiere zu vermeiden. Aus ökonomischer Sicht ist ein hohes Leistungsvermögen weiterhin sinnvoll, um die knappen Faktoren Arbeit, Stall etc. gut zu verwerten und die begrenzten Ressourcen effektiv zu nutzen. Ein Knackpunkt ist das Futteraufnahmevermögen insbesondere in den ersten Wochen nach der Kalbung, wenn die Kuh bestrebt ist, ihre maximale Leistung zu geben. Bei zu geringer Futteraufnahme wird auf die eigenen Körperreserven zu stark zurückgegriffen. Die Kühe sollen möglichst viel Futter aufnehmen können, um energetisch gut ausgefüttert zu sein und Kraftfutter zu sparen. Auf der anderen Seite ist eine Überversorgung zum Ende der Laktation im Interesse der Kuh und der Kosten zu vermeiden. Ideal wäre eine Kuh, die immer so viel frisst, wie sie braucht.

DIALOG MILCH: Welche Verbesserungen für Kuh und Landwirt kann und soll „optiKuh“ bringen?

Hubert Spiekers: In dem Forschungs- und Entwicklungsvorhaben „optiKuh“ sollten verbesserte Ansätze in Zucht, Fütterung und der Nutzung moderner Sensoren zur verbesserten Versorgung der Kühe entwickelt werden. Ein Ansatz ist die Zucht auf hohes Futteraufnahmevermögen. Bisher war eine direkte Zucht auf ein hohes Futteraufnahmevermögen nicht möglich, da hierzu beim Einzeltier die tägliche Futteraufnahme vorliegen muss. Hierzu sind digital gesteuerte „Wiegetröge“ erforderlich, die nur in Versuchsbetrieben verfügbar sind. Es gilt, die Zusammenhänge zwischen Futteraufnahme und der genetischen Information zu nutzen. Hierzu sind „Lernstichproben“ erforderlich: Die Kühe müssen hierzu genotypisiert werden (Untersuchung von Körperzellen zur Erbinformation, d. h. welche Gene oder Gensequenzen stehen für hohe Futteraufnahme), um die Zusammenhänge zu erkennen und bei der Auswahl von Zuchttieren zukünftig berücksichtigen zu können. Für „optiKuh“ konnten alle Einrichtungen, die in Deutschland Futteraufnahme beim Einzeltier messen können, zur Mitarbeit gewonnen werden. Täglich standen von ca. 1.000 Kühen die Informationen zur Verfügung. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass interessante züchterische Ansätze bestehen. Eine Fortführung zur Verbesserung der Aussagen der Lernstichprobe ist daher geplant.

Aus Sicht der Fütterung zeigten die Ergebnisse aus „optiKuh“, dass unsere Kühe auch heute schon über ein hohes Futteraufnahmevermögen verfügen und vielfach eine Absenkung des Kraftfutterniveaus möglich ist. Dies betrifft insbesondere die zweite Hälfte der Laktation. Kraftfutter sollte vornehmlich gezielt in der ersten Hälfte der Milchperiode eingesetzt werden. Ein weiterer Schlüssel zum Erfolg ist eine gute Grobfutterqualität. Dies betrifft die eingesetzten Grasprodukte wie auch den Silomais. Ob es der Kuh gut geht, kann man am Tier sehen und in der Milch lesen. Aus den Milchuntersuchungen mehr Information zu gewinnen, ist ein zentraler Ansatzpunkt von „optiKuh“.

DIALOG MILCH: Muss sich für einen wirklichen und dauerhaften Erfolg gegebenenfalls auch das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld der Milchbauern ändern?

Hubert Spiekers: Es ist unbestritten, dass die Milch- und Kälbererlöse kein gutes und vor allem stabiles Arbeitseinkommen in der Milcherzeugung möglich machen. Der Druck zur Kostensenkung ist daher bei gleichzeitig hohem Investitionsvolumen enorm. Milchviehhalter haben mit die teuersten Arbeitsplätze überhaupt. Ein Ansatz ist „nachhaltigere“ Milcherzeugung auch auszuloben und entsprechend zu bepreisen.

Aus dem Vorhaben „optiKuh“ und anderen Vorhaben ist aber auch ersichtlich, dass über innovationsorientierte Forschung Verbesserungen für Kuh und Landwirt auf den Weg gebracht werden können. Die dort eingesetzten Mittel sind ein Schlüssel, unseren Milchviehhaltern im globalen Wettbewerb Vorteile durch besseres „Verstehen“ der Kühe zu verschaffen.

DIALOG MILCH: Herr Professor Spiekers, vielen Dank für diese interessanten Ein- und Ausblicke!

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