8. Juli 2016

Milchtransport (Quelle: Lanje)

Export in der Milchwirtschaft

Die Krise auf dem Milchmarkt hält an.

Hätte eine Senkung der europäischen Angebotsmenge einen Einfluss auf den Weltpreis? Oder erlebt die Milchwirtschaft aufgrund der Bereinigung des Marktes einen Aufschwung?

Fördert das Ende der Milchquote den Hunger in der Dritten Welt? Ist Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen mit neuer Technologien eine Lösung gegen den Hunger?

Unterstützen Handelsabkommen die Ausbeutung wirtschaftlich schwacher Regionen? Oder stärken sie die Wirtschaftlichkeit der beteiligten Länder?

Kerstin Lanje, MISEREOR, und Tobias Reichert, Germanwatch, widmen sich dem Ende der Milchquote und der Exportorientierung der deutschen und europäischen Milchindustrie

Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Universität Hamburg beschäftigt sich mit der wirtschaftlichen Zukunft der Landwirtschaft

Kerstin Lanje, MISEREOR und Tobias Reichert, Germanwatch

Das Ende der Milchquote und die Exportorientierung der deutschen und europäischen Milchindustrie*

Steigende Exporte von Milchpulver gefährden entwicklungspolitische Ziele und kostendeckende Erzeugerpreise in der EU (1)

Im April 2015 ist die Quotenregelung für den EU-Milchmarkt ausgelaufen mit der seit 1984 die Milcherzeugung in der EU insgesamt, für Mitgliedsländer und letztendlich einzelne Betriebe begrenzt wurde. Mit dem Ende der Quote wird die Deregulierung der EU Agrarmärkte fortgesetzt, und der europäischen Molkereiindustrie die Möglichkeit gegeben, mehr zu exportieren. Schon in den letzten Jahren vor dem Ende der Milchquote wurde die Quotenmenge schrittweise angehoben, um eine „sanfte Landung“ vorzubereiten. Entsprechend sind die Milchexporte aus der EU um fast ein Drittel gestiegen.  2014 exportierten europäische Molkereiunternehmen Milchprodukte, für deren Erzeugung etwa 19 Millionen Tonnen Milch verarbeitetet wurden. Damit war die EU der weltweit zweitgrößte Milchexporteur. Standardisierte Massenprodukte wie Milchpulver und Molkenpulver machen über 60% der Exporte aus. Auch wächst der Export dieser Produkte besonders stark, vor allem der von Magermilchpulver, der sich gegenüber 2006 verdoppelt hat. Die wichtigsten regionalen Absatzmärkte für europäisches Milchpulver sind der Nahe Osten und Nordafrika, gefolgt von Ostasien und Afrika südlich der Sahara, vor allem Westafrika. Einzelne Länder, in die große Mengen exportiert werden, sind Algerien, Ägypten, Saudi-Arabien und Oman in der arabischen Welt, China und Malaysia in Ostasien sowie Nigeria in Westafrika. Seit Beginn des Jahrtausends sind die Milchpulverexporte, gemessen in der für die Herstellung benötigten Milchmenge, in die afrikanischen Länder recht gleichmäßig von einer auf 1,2 Millionen Tonnen gewachsen. Dagegen unterlag der derzeit boomende ostasiatische Markt drastischen Schwankungen. Im Jahr 2000 exportierte die EU 1,5 Millionen Tonnen Milch in Pulverform dorthin. Bis 2006 brachen die Exporte um mehr als drei Viertel auf unter 350.000 Tonnen ein, um dann seit 2010 auf über 1,6 Millionen Tonnen anzusteigen. Die Schwankungen im Absatz nach Ostasien erklären einen großen Teil der Veränderungen der gesamten europäischen Milchpulverexporte.

Angereichertes Milchpulver – Billigprodukt für Arme

Zusätzlich zum Exportboom für Magermilchpulver sind die europäischen Exporte für ein leicht weiterverarbeitetes Produkt stark angestiegen, das vor allem KonsumentInnen mit niedrigen Einkommen anspricht: angereichertes Milchpulver (Fat Filled Milk Powder). (2) Dabei handelt es sich um Magermilchpulver, das mit Pflanzenfett (meist Palm- oder Kokosöl) gemischt wird, um einen billigeren Ersatz für Vollmilchpulver zu erzeugen. Die Exporte dieses Produkts aus der EU haben sich in den letzten zehn Jahren auf mehr als 700.000 Tonnen verdoppelt.  Der stärkste Anstieg fand seit 2009 statt, als auch der Export von Magermilchpulver wieder deutlich zunahm. Die Exporte in die Länder Afrikas südlich der Sahara folgten demselben Muster und verdoppelten sich in den letzten zehn Jahren von 112.000 auf 256.000 Tonnen. Mit dieser Menge können – auf niedrigerer Qualitätsstufe – etwa 1,6 Millionen Tonnen Frischmilch ersetzt werden. Auf dem lokalen Markt stellt angereichertes Milchpulver damit eine größere Konkurrenz für die lokalen Milcherzeuger dar als normales Voll- oder Magermilchpulver. Wie beim normalen Milchpulver ist auch beim angereicherten Milchpulver Westafrika der mit Abstand wichtigste Absatzmarkt für die EU in Afrika südlich der Sahara. Ein starker Anstieg um das Zweieinhalbfache auf 70.000 Tonnen  ist in Nigeria zu verzeichnen. Noch drastischer ist Situation in einigen kleineren Staaten wie Mali oder Kamerun, die vor zehn Jahren keine nennenswerten Mengen importierten und nun Importe von mehreren tausend Tonnen verzeichnen.

Diese Entwicklung unterstreicht, dass untere Marktsegmente in der Exportstrategie der europäischen Molkereikonzerne eine zentrale Rolle spielen. Die Konkurrenz findet vor allem über den Preis und kaum durch besondere Qualitätsmerkmale statt. Der Export von angereichertem Milchpulver aus Deutschland ist im Gegensatz zu EU weiten Trend nur wenig gestiegen. Allerdings sind Molkereiunternehmen aus den Niederlanden und Dänemark, deren Exporte von angereichertem Milchpulver stark zugenommen haben, in Deutschland sehr aktiv. Daher ist es gut möglich, dass ein Teil des in Deutschland erzeugten Magermilchpulvers dort weiterverarbeitet und dann exportiert wurde.

Europäische Molkereien investieren in Afrika – um den Absatz ihres Milchpulvers zu sichern

Dass die Konzentration auf die unteren Marktsegmente und die Absatzmärkte in Afrika Teil einer langfristigen Strategie ist, zeigen auch die Investitionen großer europäischer Molkereiunternehmen in Afrika. Arla, FrieslandCampina und Danone investieren in den letzten Jahren verstärkt in die Milchverarbeitung in Westafrika, meist indem sie bestehende afrikanische Unternehmen aufkaufen oder Anteile erwerben. (3) Die große Mehrheit dieser Molkereien nutzt ganz überwiegend oder ausschließlich importierte Rohstoffe, vor allem Milchpulver, das entweder in Portionen in Haushaltsgröße umgepackt oder zu anderen Produkten wie Trinkmilch, Jogurt oder Kondensmilch weiterverarbeitet wird. Während Arla in der Elfenbeinküste und Danone in Nigeria Unternehmen kauften beziehungsweise Joint Ventures mit Firmen eingingen, die ausschließlich importierte Rohstoffe verwenden, plant FrieslandCampina in Nigeria, auch Milch aus nationaler Produktion zu zu kaufen und deren Anteil schrittweise zu steigern.  Angesichts des wachsenden Angebots auf dem Weltmarkt und den niedrigen Preisen, lässt sich diese Strategie nicht einfach verwirklichen. Insbesondere die Konkurrenz mit Unternehmen, die ausschließlich daraufsetzen, die günstigeren Importe zu verwenden, ist ein bedeutendes Hindernis.

Während die meisten Investitionen in Westafrika stattfinden, dem traditionell wichtigsten Markt der EU in Afrika südlich der Sahara, nehmen europäische Molkereien  in jüngster Zeit  auch andere afrikanische Regionen ins Visier. Danone und Lactalis/Parmalat sind schon seit den 1990er Jahren in Südafrika aktiv und die in letzter Zeit zunehmenden Exporte Südafrikas in benachbarte Länder beruhen zu einem großen Anteil darauf, dass Milchpulver aus der EU weiterverarbeitet und dann exportiert wird. Danone hat 2014 einen vierzig Prozent Anteil an der größten kenianischen Molkerei erworben.

Schützenhilfe durch die Handelspolitik: Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU mit afrikanischen Regionen

Die Absatzmöglichkeiten europäischer Molkereien in Westafrika werden auch durch aktuelle handelspolitische Entwicklungen gefördert. Nach 15 Jahren zäher Verhandlungen hat die EU mit der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) die Verhandlungen zu einem Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (Economic Partnership Agreement –EPA) genannten Freihandelsabkommen zwischen beiden Regionen abgeschlossen. Es soll den freien Marktzugang ersetzen, den die EU seit den 1970er Jahren ohne Gegenleistung gewährte. Die EU argumentiert, dass diese einseitigen Präferenzen für eine bestimmte Ländergruppe nicht mit den Regeln der Welthandelsorganisation WTO vereinbar sind. Durch den Abschluss von gegenseitigen Freihandelsabkommen, die von der WTO anerkannt werden, kann der freie Zugang zum EU-Markt gesichert werden. Allerdings um den Preis, dass auch die ECOWAS-Länder ihre Märkte gegenüber der EU öffnen müssen. Ein zentraler Streitpunkt dabei war lange, wie viele Produkte von dieser Liberalisierung ausgenommen werden und damit weiter durch Zölle geschützt werden können. Die Einigung sieht nun vor, dass die ECOWAS-Staaten Zölle für etwa ein Viertel aller Produkte beibehalten dürfen. Für welche Produktgruppen dies gelten soll, ist zumindest offiziell alleine Entscheidung der ECOWAS Länder, die sich allerdings intern einigen mussten. Anders als zum Beispiel die ostafrikanische Gemeinschaft, hat ECOWAS laut den derzeit zugänglichen Verträgen beschlossen, im Molkereisektor nur Frischprodukte wie flüssige Milch und Joghurt von den Zollsenkungen auszunehmen. Für Milchpulver, auch angereichertes Magermilchpulver, sollen dagegen die ohnehin schon niedrigen Zölle innerhalb weniger Jahre ganz abgeschafft werden. (4) Von dieser Maßnahme profitieren die Molkereien in der Region, die ihren „Rohstoff“ Milchpulver billiger einkaufen können. Interessanterweise haben wie oben dargestellt, große europäische Molkereien gerade in diese Unternehmen investiert. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass sie auch ihren gewachsenen Einfluss als nunmehr regionale Unternehmen gegenüber den Regierungen geltend gemacht, und auf den zollfreien Import von Milchpulver gedrängt haben. Sie gewinnen damit doppelt: Die Mutterunternehmen in der EU verbessern den Zugang zu einem wichtigen Absatzmarkt, und die Tochterunternehmen in Afrika erhalten ihren Rohstoff etwas günstiger.

Verlieren werden die westafrikanischen Milchbäuerinnen und -bauern, die ihre langjährige Forderung nach besserem Außenschutz nicht durchsetzen konnten. Im Gegenteil: Die Zölle werden im Rahmen des EPA gegenüber der EU, dem schon heute größten Lieferanten, vollständig und dauerhaft abgeschafft. Dabei zählen die meist nomadisch lebenden Viehhalter in Westafrika zu den ärmsten und am stärksten von Hunger betroffenen Bevölkerungsgruppen. Zusätzliche Einkommensquellen wären vor allem für die Frauen, die traditionell für die Verarbeitung und die in der Regel informelle Vermarktung von Milch verantwortlich sind, dringend notwendig. Eine Entwicklung wie in Ostafrika, wo es auch mit Hilfe von hohen Zöllen auf Importe von Milchprodukten gelungen ist, Kleinbäuerinnen und -bauern und Nomaden in Wertschöpfungsketten einzubinden, wird mit dem Marktöffnungsbeschluss im Rahmen des EPA  praktisch unmöglich gemacht.

Melkerin (Quelle: Lanje)

Milcherzeugung in Indien – zwischen kleinbäuerlichen Strukturen, Industrialisierung und Exportorientierung und neuem Importdruck

In Indien spielt Milch traditionell eine wichtige Rolle in der Ernährung. Sie wird ganz überwiegend von Kleinbäuerinnen und -bauern erzeugt und zu einem großen Teil selbst konsumiert, lokal getauscht oder verkauft. Dieses traditionelle System konnte in den 1950er und 1960er Jahren die stark wachsende städtische Bevölkerung wegen fehlender Verarbeitungs- und Transportmöglichkeiten allerdings nicht ausreichend versorgen. Indien war zu dieser Zeit auf Milchpulver-Importe für die städtischen Märkte angewiesen. Um das zu ändern, startete die indische Regierung 1970 die „Operation Flood“. Lokale Genossenschaften wurden gefördert, um die Milch zu sammeln, zu konservieren und zu vermarkten und die Bauern und Bäuerinnen in Fragen der Tiergesundheit und Fütterung zu unterstützen und zu beraten. Das Programm war erfolgreich: Produktion und Selbstversorgung stiegen ebenso an wie die Einkommen aus der Milcherzeugung, was auch besonders armen Bevölkerungsgruppen wie landlosen ViehhalterInnen zu Gute kam. 1980 wurden in Indien etwa 32 Millionen Tonnen Milch erzeugt, und zusätzlich 350.000 Tonnen importiert. Zehn Jahre später war die Erzeugung auf 54 Millionen Tonnen gewachsen und die Nettoimporte auf 1000 Tonnen gesunken. 2012 lag die Milchmenge bei beeindruckenden 136 Millionen Tonnen, und es wurden 140.000 Tonnen mehr Milch exportiert als importiert.  (5)

Zu Beginn unterstützte die EU die „Operation Flood“ durch kostenlose Milchpulverlieferungen, die von den neu gegründeten genossenschaftlichen Molkereien weiterverarbeitet und verkauft wurden. Die Erlöse halfen den Genossenschaften sich am Markt zu etablieren und schrittweise auf den Ankauf der frischen Milch ihrer Mitglieder umzustellen. Nachdem Indien weitgehende Selbstversorgung mit Milch erreicht hatte, stellte die EU die Lieferungen ein und Indien begann, seinen Milchmarkt mit relativ hohen Zöllen zu schützen, um die – im internationalen Vergleich moderaten – Milchpreise gegen Schwankungen auf dem Weltmarkt zu isolieren. Der bislang sehr erfolgreiche kleinbäuerliche Milchsektor Indiens steht in den letzten Jahren allerdings vor großen Herausforderungen. Die indische Regierung setzt auf eine weitere Expansion der Milchproduktion, obwohl Indien schon heute der nach der EU weltweit größte Milchproduzent und -konsument ist und der heimische Verbrauch mit durchschnittlich über 70 Kilogramm pro Kopf und Jahr relativ hoch liegt. In den letzten Jahren wurde gleichwohl mehr Milch erzeugt als verbraucht wird und Indien tritt als Exporteur am Weltmarkt auf. Die zusätzliche Produktion soll vor allem Teil aus neu zu errichtenden „modernen“ Großbetrieben kommen, die mit den Kleinbäuerinnen und -bauern konkurrieren – vor allem, wenn die Nachfrage im In- und Ausland nicht wie prognostiziert ansteigt. Erste Entwicklungen in dieser Richtung sind aktuell bereits zu beobachten. Angesichts der niedrigen Weltmarktpreise für Magermilchpulver, versuchen indische Molkereien, dieses verstärkt auf dem heimischen Markt abzusetzen. Dazu wird es mit aus der EU und den USA importiertem Butteröl vermischt und zu flüssiger Milch verarbeitet, die dann mit den Erzeugnissen der genossenschaftlichen Kleinmolkereien konkurriert. (6) Entsprechend haben sich die EU Butterölexporte in den letzten Monaten mehr als verdoppelt (7), und die inländischen Milchpreise in Indien unter Druck geraten. Diese Entwicklung verdeutlicht auch die Risiken, die das geplante Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU mit sich bringt. Die EU dringt dabei darauf, dass Indien seinen Milchmarkt für den bilateralen Handel öffnet. Anders als in Westafrika werden die Importe aus der EU keinen bedeutenden Anteil am riesigen indischen Markt ausmachen. Der kurzfristige Anstieg des Imports von einigen strategisch wichtigen Produkten kann allerdings in wichtigen Teilmärkten zu Verwerfungen führen, und wie im aktuellen Beispiel die Position der industriell ausgerichteten Milchwirtschaft in Indien gegenüber dem kleinbäuerlichen Sektor stärken.

Kurswechsel in der EU würde Milchbauern hier und weltweit  nutzen

Die Ausrichtung auf höhere Erzeugung und Exporte ist auch für die Milchbauern in der EU problematisch. Seit Jahrzehnten hält der Strukturwandel hin zu größeren und immer weniger Betrieben an. Allein in Deutschland ist die Zahl der Milchvieh haltenden Betriebe seit Einführung der Milchquote um etwa 80% zurückgegangen. Diese Entwicklung ist zwar drastisch, aber noch deutlich langsamer als bei den noch stärker am Weltmarkt orientierten Schweine- und Hühnermästern, wo bei steigender Gesamtproduktion die Zahl der Betriebe um 95% gesunken ist. Mit dem Ende der Quote und in der aktuellen Preiskrise droht nun ein ähnlicher Strukturbruch bei der Milch.

Um bäuerliche und ökologisch verträgliche Milcherzeugung in der EU und Deutschland zu ermöglichen, ist ein deutlicher Kurswechsel in der Strategie der Molkereiunternehmen und der sie unterstützenden Politik notwendig. Die für die derzeitige Milchpreiskrise vorgeschlagenen Instrumente wie Erhöhung der Intervention, kurzfristige Liquiditätshilfen für Höfe oder weitere Exportoffensiven eignen sich nicht, um die Krise – ausgelöst durch eine Überschussproduktion der Milch – wirksam und zügig zu beseitigen, bzw. weitere zerstörerische Krisen präventiv zu verhindern. Stattdessen müssen Anreize geschaffen werden die Erzeugung zu begrenzen, um die Preise zu stabilisieren. Mittelfristig muss die Produktion an den Bedarf auf dem EU-Binnenmarkt und für Qualitätsprodukte auf dem Weltmarkt angepasst werden. Dadurch kann sich der Erzeugerpreis erholen und stabilisieren und Exporte von Massenprodukten wie Milchpulver zu Dumpingpreisen sind nicht mehr möglich. Dabei sollte gezielt auf eine höhere Wertschöpfung aus Weiterverarbeitung, regionaler Identität und höherer Produktqualität gesetzt werden. Solche qualitative Milcherzeugung sollte im Zentrum  der Strategien der Molkereien stehen, von Bäuerinnen und Bauern mit weiterentwickelt werden und durch geeignete Rahmenbedingungen und Förderprogramme seitens der Politik unterstützt werden.

(1) Der Artikel basiert auf der Studie: „Billiges Milchpulver für die Welt“ von Tobias Reichert und Johannes Leimbach, herausgegeben von Germanwatch, AbL, Misereor und Brot für die Welt. Alle Daten zu Handelsströmen und Produktion sind dieser Studie entnommen

(2) European Commission (2014): Short Term Outlook for EU arable crops, dairy and meat markets in 2015 and 2016, Brüssel

(3) CTA (2014) (Technical Centre for agricultural and rural cooperation): The evolving EU–Africa dairy trade: EU corporate responses to milk production quota abolition, Special report, September 2014, Wageningen. http://agritrade.cta.int/en/Agriculture/Commodities/Dairy/The-evolving-EU-Africa-dairy-trade-EU-corporate-responses-to-milk-production-quota-abolition

(4) Economic Partnership Agreement between West Africa and the European Union, Annex C: Costums Duties on products originating in the European Union http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/october/tradoc_153869.pdf

(5) FAOStat (2015): Food and Agriculture Organisation of the United Nations, Statistical Database, http://faostat3.fao.org/home/E

(6) Food Sovereignty Alliance (2015): The milk crises of 2015 – a dialogue of farmer’s movements, Press Release,  https://foodsovereigntyalliance.wordpress.com/2015/10/23/press-release-the-milk-crises-of-2015/

(7) http://ec.europa.eu/agriculture/milk-market-observatory/pdf/eu-extra-trade-summary_en.xls

Kerstin Lanje (MISEREOR)

Kerstin Lanje, Referentin für Welthandel und Ernährung bei MISEREOR

Tobias Reichert (Germanwatch)

Tobias Reichert, Teamleiter Welternährung, Landnutzung und Handel bei Germanwatch

Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Universität Hamburg

Trotz düsterer Aussichten hat Landwirtschaft Zukunft!*

Die Aussichten für die Agrarwirtschaft sind düster. Hohe Produktion und geringe Nachfrage führen zu Überschüssen. Entsprechend liegen die Preise für landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe am Boden. Anfang 2016 erhalten die Erzeuger in Deutschland weniger denn je – für einen Liter Milch weniger als 30 Cent.

Pessimismus macht sich breit. Werden die Preise der Agrargüter dauerhaft auf tiefem Niveau verharren? Ist der Preiszerfall die Folge eines langfristigen Trends der Überschusskapazitäten oder ist er eher das kurzfristige Spiegelbild einer von vielen als Deflationsperiode bewerteten allgemeinen Wirtschaftssituation? Diese Frage auszuleuchten, ist Ziel der folgenden Überlegungen.

Gegenwärtig wird die Realwirtschaft von der expansiven Geldpolitik der Notenbanken verunsichert und aus dem Gleichgewicht gebracht. Seit Langem liegen die Zinsen auf historischen Tiefstständen. In Europa sind sogar Negativzinsen weit verbreitet. Eine Zinswende ist zwar in den USA eingeleitet worden. Sie war aber weder bedeutsam noch nachhaltig. Und vor allem: sie hat Europa nicht erfasst. Und sie wird auch in naher Zukunft kaum europäische Realität werden.

Die Situation in Europa

Im Gegenteil. Mitte März hat die Europäische Zentralbank (EZB) bekräftigt, an einer expansiven Geldpolitik festhalten zu wollen. Sie hat die Leitzinsen weiter nach unten in den negativen Bereich abgesenkt. Offenbar beurteilt sie die konjunkturelle Entwicklung weiterhin pessimistisch. Deshalb sollen Kredite noch einmal weiter verbilligt und damit die Wirtschaft zusätzlich stimuliert werden. Als würde die Investitionstätigkeit in (Süd-)Europa wegen zu teurer Kredite so zurückhaltend bleiben. Ehrlicherweise müsste erwähnt werden, dass der eigentliche Grund ganz anderswo liegt: nämlich in der allgemeinen Unsicherheit der Anleger und im verloren gegangenen Zukunftsvertrauen.

Ein von der EZB durchaus beabsichtigter Nebeneffekt ihrer expansiven Geldpolitik ist, dass eine Zinssenkung den Euro abwertet. So werden Importe verteuert und Exporte verbilligt. Beides verschafft der europäischen und der deutschen Agrarwirtschaft Wettbewerbsvorteile gegenüber außereuropäischen Konkurrenten. Ein schwacher Euro hilft dem von hoher Arbeitslosigkeit und geringem Wirtschaftswachstum geplagten Euro-Raum. Ein gerne gesehener Stimulus.

Für eine negative Einschätzung der europäischen Wirtschaft finden sich indes gute Gründe. Neben dem schwelenden Grexit, einem erzwungenen Rauswurf Griechenlands aus der Währungsunion, droht ein Brexit, ein freiwilliger Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Dazu erschüttert die Flüchtlingsmigration die Fundamente der europäischen Solidarität. Überall siegt der Nationalismus gegen europäische Lösungen. Die Folge: die Transaktionskosten steigen, was nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit schmälert, sondern ganz generell die Stimmung trübt. Die Menschen spüren, dass Europa am Scheideweg steht. Aggressiver denn je ist die Kritik an der EU. Grösser denn je die Gefahr, dass die EU zerbrechen könnte. Das wäre für alle ein Drama. Auch für die Agrarwirtschaft.

Der von der EZB eingeschlagene Weg in die Welt negativer Zinsen hebt den Kapitalmarkt aus den Fugen. Letztlich schafft sich der Kapitalismus selber ab, wenn nicht der Markt und damit Anbieter und Nachfrager, sondern die Zentralbanken unabhängig von Knappheit und Risiken die Zinsen nach ganz anderen Kriterien festlegen. Wenn Banken künftig von der EZB dafür bezahlt werden, dass sie Kredite vergeben, hat das mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem nichts mehr zu tun.

Damit aber folgen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft völlig unterschiedlichen Richtungen und Gesetzmäßigkeiten. Schlimmer noch: immer stärker wächst die Sorge, dass die Null- und nun sogar Negativzinspolitik weder zur Gesundung der Wirtschaft noch zur Stimmungsaufmunterung führt. Eher verstärkt die geldpolitische Therapie eine Verunsicherung, die sie eigentlich gerade kurieren sollte. Mehr von einer Medizin, die nicht wirkt, kann eben den Patienten kränker und nicht gesünder machen.

„Die über derart lange Zeit äußerst niedrigen Zinssätze sind vermutlich keine „Gleichgewichtszinsen“, die ein nachhaltiges und ausgewogenes Weltwirtschaftswachstum unterstützen würden. Sie wären demnach nicht einfach Ausdruck der gegenwärtigen Schwäche, sondern hätten diese teilweise verstärkt, indem sie kostspielige finanzielle Auf- und Abschwünge begünstigt hätten. Das Ergebnis: zu hohe Verschuldung, zu geringes Wachstum und übermäßig niedrige Zinssätze. Niedrige Zinssätze erzeugen noch niedrigere Zinssätze.“

Diese Aussagen sind nicht etwa das vernichtende Urteil aggressiver Notenbankkritiker. Es sind Zitate aus der Einleitung zum ersten Kapitel des Jahresberichts 2015 der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) – also der Zentralbank der Zentralbanken. Tiefe Zinsen machen die private Verschuldung billig. So können sich Verbraucher einen Konsum auf Pump leisten und Investoren sind in der Lage, auch renditeschwächere Investitionen günstig zu finanzieren. Damit wird provoziert und in Kauf genommen, dass viele, die sich heute zu günstigen Zinskosten verschulden, in böse Schwierigkeiten geraten werden, wenn die Zinsen eines Tages auf ein Normalniveau ansteigen sollten.

Ebenso werden Angebot von und Nachfrage nach Arbeit und damit Lohnverhältnisse verzerrt und dadurch verfälscht. Beispielsweise wird bei tiefen Hypothekarzinsen viel gebaut. Somit steigt die Nachfrage nach Bauarbeitern, was deren Löhne steigen lässt. Als Folge davon wird es für viele Arbeitskräfte attraktiv, aus anderen Branchen in die Bauwirtschaft zu wechseln. Die Entwicklung in Spanien während der letzten zwei Jahrzehnte veranschaulicht mehr als bedrückend, mit welchem Katzenjammer das enden kann. Die hohe (Jugend-) Arbeitslosigkeit von heute ist das Erbe des spanischen Baubooms der 2000er Jahre und des Platzens danach.

Bekanntlich sollten Aktienkurse Erwartungen in die zukünftige Geschäftsentwicklungen der Firmen abbilden. Wenn aber Vermögen, das bis anhin in Staatsanleihen, festverzinslichen Wertpapieren oder als Spareinlagen gehalten wurde, mangels Profitabilität in Aktien oder Sachwerte umgeschichtet wird, steigen die Börsenkurse oder Immobilienpreise als Folge der zusätzlichen Nachfrage und nicht neuer betriebswirtschaftlicher Erfolgszahlen wegen. Natürlich hat das auch dramatisch negative Auswirkungen auf die Agrarmärkte. Die Preisbildung für Milch folgt dann nicht nur Angebot und Nachfrage. Sie wird verzerrt durch Kapital, das auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten, auch in Rohstoffmärkte fließt.

Wenn Börsenkurse oder Immobilienpreise deutlich rascher steigen als die reale Wachstumsrate von Produktivität, Effizienz oder Leistungsfähigkeit von Unternehmen, müssen zwangsläufig die Warnlichter angehen. Für zu viele Insider an den Finanzmärkten steigen dann die Anreize, die Ungleichgewichte zwischen realer und monetärer Entwicklung auszunutzen, Volatilität zu erzeugen und auf Kosten von Kleinanlegern oder uninformierten Outsidern zu eigenen Gunsten Kasse zu machen. In dieser Situation aber wird gerade die Absicht, sich durch den Kauf von Aktien und anderen Sachwerten gegen Unsicherheit abzusichern, zum Bumerang. Er trifft diejenigen, die durch ihre Nachfrage erst eine Blase aufgepumpt haben, deren Platzen sie danach selber schädigt.

Weltweite Wirtschaftsentwicklungen

Aber nicht nur Europa steckt in wirtschaftlichen Turbulenzen. Die Weltwirtschaft insgesamt steht vor dramatischen Veränderungen. Sie werden weltweit die Wachstumsdynamik bremsen und die Verteilungskämpfe beschleunigen.

Überall haben die Globalisierungsgegner politischen Aufwind. Bei der im Herbst anstehenden US-Präsidentenwahl steht mit Donald Trump ein erzkonservativer Nationalist an der Spitze des (republikanischen) Kandidatenfelds. Wesensgleiche Nationalisierungsbewegungen finden sich in Europa. Großbritannien entscheidet sich in diesem Jahr, ob es die Europäische Union (EU) verlassen und in eine „splendid isolation“ zurückkehren will. Marine Le Pen befeuert in Frankreich ebenso einen aufflammenden Nationalismus wie die nationalkonservativen Regierungen in Polen und Ungarn. Im Zweifelsfalle für die Nation und gegen die EU erweist sich als Erfolgsmotto, das politischen Zulauf bringt. Kaum jemand, der aufschreit und für mehr Gemeinsamkeit in Europa wirbt.

Der Abwehrkampf gegen die Flüchtlingswelle spült in ganz Europa die Gegner offener Grenzen an die Macht. Anstatt mit gemeinsamen Anstrengungen das Problem an seiner Wurzel zu packen – nämlich bei den Ursachen von Flucht und Vertreibung, wirtschaftlicher Not und Elend in den Herkunftsländern – wird einzelstaatlich gegen die Symptome vorgegangen.

Ergebnis ist ein beschämender Abschreckungswettlauf zwischen europäischen Regierungen. Er ist seit dem Merkantilismus als „beggar-thy-neighbor-Politik“ bekannt. Dabei geht es darum, mit der eigenen Verhaltensweise den Nachbarn zum Bettler zu machen. Konkret: die einzelnen europäischen Länder versuchen, sich selber so unattraktiv und die eigenen Grenzen so dicht zu machen, dass Asylsuchende weder Anreiz noch Chance haben, die Nachbarländer zu verlassen und dort verharren müssen. Soll doch der Nachbar das Problem und die Kosten haben, selbst wenn von der Lösung alle profitieren!

Diese Politik ist auf Konflikt und nicht auf Konsens ausgelegt. Sie ist der Anfang vom Ende eines gemeinsamen, kooperativen Vorgehens. Stattdessen dominieren nationale Interessen zulasten der Nachbarn das Verhalten. Das gilt nicht nur für die Flüchtlingspolitik. Die national(istisch)e Politik zulasten der Nachbarn findet sich auch bei der Euro-Krise, oder bei der Politik gegenüber Russland oder der Türkei oder im europäischen Verhalten gegenüber dem Nahostkonflikt und dem südlichen Mittelmeer.

Eine Reihe von Kriegen, Konflikten und politischen Unsicherheiten erschweren zusätzlich stärker als in den letzten Dekaden den ungehinderten grenzüberschreitenden Austausch von Waren, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren – also Investitionen und Arbeitskräften. Nicht immer, aber doch sehr oft, spielen dabei Verteilungsfragen eine entscheidende Rolle.

Der Rückgang der Globalisierung

Selbst wenn es den meisten Bevölkerungen wirtschaftlich besser geht als jemals zuvor, fühlen sich viele als Verlierer der Globalisierung. Sie finden es unfair, dass mancherorts in den ärmeren Weltregionen des Südens der Rückstand gegenüber den Wohlhabenden des Nordens eher größer als kleiner geworden ist.

Die Globalisierung verliert weltweit ihre Freunde. Als Folge verliert die Weltwirtschaft ihre Dynamik. Die internationale Arbeitsteilung wird gebremst, die Spezialisierung unterbleibt. Vorteile der sinkenden Stückkosten dank großer Massenmärkte entfallen genauso wie die Kostenersparnisse durch die Vermeidung von Doppel- oder Mehrspurigkeit bei Versorgungs-, Vertriebs- und Finanzierungssystemen.

Entgegen der intuitiven Erwartung leiden die Schwellenländer unter der Anti-Globalisierungsbewegung ganz besonders. Industrieländer des Nordens haben eher die Möglichkeit, einen Wegfall der Auslandsnachfrage durch starke Binnenmärkte zu kompensieren. Deshalb leidet der „Exportweltmeister“ Deutschland (noch) nicht so sehr unter der Zeitenwende.

Der dank guter Beschäftigungslage und höherer Reallöhne steigende private Konsum vermag hierzulande die verlorene Dynamik der Außenwirtschaft aufzufangen. Ebenso ist die deutsche Wirtschaft – anders als die Konkurrenz aus den Schwellenländern – in industriellen High-Tech-Märkten unterwegs, die weit weniger konjunktur- und preisabhängig sind, als beispielsweise Rohstoffe oder Agrarprodukte. Investitionsgüter müssen und werden auch in schlechteren Zeiten nachgefragt.

Anders die Schwellenländer. Sie können weder auf die Kaufkraft der eigenen Bevölkerung zählen noch auf die Stabilität der Rohstoffeinnahmen. Deswegen fallen ihre jährlichen Wachstumsraten heute real rund drei Prozent schwächer aus als vor einer Dekade. Somit kommt der Aufholprozess ins Stocken. Auch, weil in den meisten Schwellenländern die Bevölkerungszahl weiter zunimmt und das Bevölkerungswachstum einen Teil des Wirtschaftswachstums „auffrisst“, so dass sich die durchschnittliche Lebensqualität der Massen nur geringfügig verbessert.

Die Folgen für die Agrarmärkte

An der Stelle entstehen die dramatischen Rückwirkungen auf die Agrarmärkte. Sie sind in der Lehrbuchliteratur als Verschlechterung der „Terms of Trade“ bekannt. Weil die Schwellenmärkte in der Krise stecken, werten ihre Währungen stark ab. Dadurch sinkt der Exportwert ihrer Agrarerzeugnisse. Um dennoch genügend zu verdienen, müssen die Landwirte in den Schwellenländern entsprechend der sinkenden Exporterlöse die Mengen ausweiten. Das Mehr an Menge soll das Weniger an Erlös kompensieren. So werden die Weltmärkte mit Agrarprodukten geflutet. Es kommt zu Überschüssen. Die Weltmarktpreise sinken – sehr zum Leidwesen der europäischen Agrarwirtschaft.

Die sinkenden Preise für Agrarprodukte wiederspiegeln somit eher kurzfristige Folgeeffekte von schwacher Weltkonjunktur und expansiver Geldpolitik in den Industrieländern. Längerfristig wird die Landwirtschaft ein Comeback erleben. Und zwar auf mehreren Ebenen. Erneuerbare Energien, Wasser und Ernährung sind die Megatrends der Zukunft. Alle haben sie mit der Agrarwirtschaft zu tun. Und überall eröffnen sich daraus neue Chancen – auch und gerade für deutsche Landwirte.

Die Zukunft der Landwirtschaft

Ausgangslage für den langfristigen Optimismus bietet die weltweite Bevölkerungsentwicklung. Die Weltbevölkerung wird noch lange weiter wachsen – von heute knapp sieben auf acht Milliarden im Jahr 2025 und auf neun Milliarden nach 2040. Die zwei zusätzlichen Milliarden Erdenbürger wollen und werden mehr essen und trinken.

Der weltweit steigende Bedarf nach Essen und Trinken bietet enorme Chancen. Nirgendwo auf der Welt weiß man mehr über qualitativ hochwertige Lebensmittel als in Deutschland. Die gesamte Wertschöpfungskette für Nahrungsmittel vom Anbau, der Lagerung, der Verarbeitung und dem Vertrieb bietet gigantische Potenziale. Dabei geht es nicht etwa darum, in Deutschland mehr Flächen noch intensiver für die Landwirtschaft zu nutzen. Im Zentrum soll nicht so sehr die Herstellung von Agrarprodukten stehen, sondern das Verständnis, was hinter den Produkten ist: Wie lassen sich landwirtschaftliche Prozesse und agrarische Wertschöpfungsketten optimieren? Wie können hochwertige Nahrungsmittel passgenau auf Kunden zugeschnitten werden? Um kluge Antworten und innovative Lösungen zu finden, braucht es Wissen. In der Qualität liegt der Vorteil der deutschen Agrarwirtschaft gegenüber anderen Weltregionen nicht im Anbau. Wenn es um die Quantität geht, sind und bleiben andere Länder auf Grund natürlicher Standortvorteile überlegen.

Die Milchpulverproduktion liefert ein anschauliches Beispiel, wohin die Reise der deutschen Agrarwirtschaft gehen sollte. Nach Skandalen um verseuchte Milch in China, wurden in Deutschland die Regale für Trockenmilch-Produkte leergekauft, um die eigentlich für den deutschen Markt bestimmten Produkte nach China zu exportieren. Aus Angst vor Hamsterkäufen mussten deshalb mehrere deutsche Drogerieketten eine Mengenrationierung anordnen. Das belegt, wie offen die Weltmärkte für qualitativ hochwertige Lebensmittel und weiterverarbeitete Nahrungsmittel heute schon sind. Und wie schnell Defizite zu Versorgungsengpässen führen können. Engpässe bei sauberem Wasser und hochwertigen Lebensmitteln dürften in Zukunft häufiger auftreten.

Damit Deutschland beim kommenden Boom der Landwirtschaft mit Erfolg mitspielen kann, bedarf es der Führungskraft in Politik und Wirtschaft. Es gilt, Wissenschaft und Praxis, Fachhochschulen und Unternehmen eng zu verzahnen, um gemeinsam neues Wissen zu generieren, das sich weltweit gut verkaufen lässt. Dabei steht am Anfang aller Dinge die Innovationsfähigkeit. Und die gedeiht am besten in einem Umfeld anwendungsorientierter Bildungs- und Forschungszentren und deren Vernetzung zu kleinen, mittelständischen Firmen, die neue Ideen zu neuen Produkten, Leistungen und Prozessen weiterverarbeiten. So findet ein alltäglicher Transfer und Austausch von Wissen statt und Innovationen finden schnell Eingang in die alltägliche Produktion. Das beginnt bei der Entwicklung von Wissen um eine ökologisch nachhaltige Landwirtschaft. Oder bei der Weiterverarbeitung von agrarischen Erzeugnissen zu hochwertigen Nahrungsmitteln. Da ist Deutschland jetzt schon gut unterwegs. Es spricht nichts dagegen, noch besser zu werden.

Die Rolle des Wassers

Der Schlüssel zur Bekämpfung des Hungers in der Welt liegt in Innovationen auf allen Ebenen der agrarischen Wertschöpfungskette. Dabei liegt der strategische Engpass beim sauberen Wasser. Süßwasser ist für Mensch, Tier und Pflanze unersetzbar. Es wird gleichermaßen zum Trinken, Bewässern wie auch zunehmend zur Energiegewinnung gebraucht.

Essen und Trinken hängen eng zusammen. Die Landwirtschaft ist nämlich beides: der größte Wasserverbraucher und der größte Wasserverschwender. Rund zwei Drittel des weltweiten Weltwasserkonsums werden benötigt, um Nahrungsmittel herzustellen. Ohne künstliche Bewässerung würden weit mehr Menschen als heute am Hungertuch nagen. Etwa ein Drittel der Weltnahrungsmittelproduktion ist von künstlichem Regen abhängig. Weltweit hat aber heutzutage über eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Das Drama hat seine Ursachen in einem Missmanagement der Wasserwirtschaft. Immense Wassermengen versickern durch lecke Leitungen oder gehen durch ineffiziente Bewässerung verloren, werden durch Fäkalien verschmutzt oder durch Schadstoffe verseucht. Das führt dazu, dass ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung unter chronischem oder immer wiederkehrendem Süßwassermangel leidet. Deshalb bedarf es dringend besserer Ideen, wie mit Wasser sorgsamer umgegangen werden kann.

Entscheidend ist es, mehr und genügend verschmutztes, verseuchtes oder salziges Wasser trinkbar zu machen. Denn an sich gibt es genug Wasser. Etwa 70% der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt. Aber nur ein Prozent davon ist als Süßwasser nutzbar.

Wie also kann es gelingen, aus Salzwasser Süßwasser zu machen? Dafür braucht es Energie. Und die steht mit der Sonne im Überfluss zur Verfügung – gerade in jenen Weltregionen, in denen Süßwasser am stärksten fehlt.

Die Idee ist also einfach: man nehme die Sonnenenergie, betreibe damit Meerwasserentsalzungs- und Brauchwasserwiederaufbereitungsanlagen und schon verfügt man über genügend Süßwasser, um Felder in trockenen Weltregionen weit intensiver zu bewässern und damit landwirtschaftlich benutzbar zu machen als das heute der Fall ist.

Die Ausführung ist schwieriger. Denn es braucht Geld zur Finanzierung und vor allem Ideen zur Steigerung von Effizienz und Wirksamkeit. Die Modernisierung der Bewässerungssysteme in der Landwirtschaft, die Sanierung und Erweiterung der Trinkwasser- und Abwassersysteme, das Auffangen von Regenwasser, die Abwasseraufbereitung und Meerwasserentsalzung sind Bereiche, die nach technischen Innovationen verlangen. Genossenschaften, Zweckverbände und lokale Eigentumsrechte sind gesellschaftliche, institutionelle Innovationen, die zu einer effektiveren gemeinschaftlichen Wassernutzung beitragen können. Zu alldem haben deutsche Firmen viel zu sagen.

In der Wasser- und Landwirtschaft steht Deutschland weltweit ganz weit oben, wenn es um neues Wissen und dessen Umsetzung geht. Eine lange historische Erfahrung, viel spezifisches Fachwissen und vor allem eine gut qualifizierte, hoch sensible Bevölkerung sind ein guter Nährboden für innovative Geschäftsmodelle. Sie könnten und müssten genutzt werden, um weltweit eine Vorreiterrolle zu spielen.

Erkennen Bauern, Genossenschaften, Verbände, Wirtschaft und Politik das gewaltige Potenzial an Innovation, nachhaltigen Prozessen und neuen Problemlösungen das in der Qualität und weniger in der Quantität der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte steckt, hat die deutsche Agrarwirtschaft ihre besten Tage nicht hinter, sondern vor sich!

Chinas ökonomische Zukunft kennt viele Risiken

Nervosität und Unsicherheit steigen, wenn es um die ökonomische Zukunft Chinas geht. Im ersten Quartal 2016 haben sich nicht nur konjunkturelle Schwächen gezeigt, sondern verstärkt auch strukturelle Probleme. Die grundsätzlichen politischen, ökonomischen, ökologischen, sozialen und auch demografischen Risiken sind lange schon bekannt:

  • Private, kommunale, staatliche und die gesamtwirtschaftlichen Schulden erreichen in Bestand und bezogen auf die jährliche Neuverschuldung griechische Maßstäbe. Jahr für Jahr liegt das öffentliche Finanzierungsdefizit bei über 7% des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
  • Neben der schuldenfinanzierten Immobilienblase werden strukturelle Defizite immer offensichtlicher. Dazu gehören
  • der verlangsamte Produktivitätsfortschritt,
  • die Umweltverschmutzung,
  • die demografische Alterung,
  • die Korruption, wie sie in einer autoritären, von einer Einheitspartei dominierten Planwirtschaft systemimmanent ist sowie
  • das Wohlstandsgefälle einmal zwischen den Zentren Shanghai oder Peking und dem agrarisch geprägten Landesinnern, aber auch zwischen wenigen reichen und vielen armen Familien.

Der durchschnittliche Lebensstandard liegt in China weit hinter jenem Taiwans oder Koreas zurück. Er erreicht nominal etwa ein Sechstel, real in Kaufkraft gemessen ein Viertel bis ein Drittel des deutschen Niveaus.

Selbst wenn der Anteil der Ärmsten – mit einer realen Kaufkraft von weniger als drei US-Dollar pro Tag in China seit Mitte der 1980er Jahre von über 90 Prozent auf rund ein Viertel gefallen ist – was ein enormer Erfolg war – verbleiben 350 bis 400 Millionen Menschen an oder unterhalb der Grenze des Existenzminimums. Da besteht viel Potenzial zum Aufholen. Aber es zeigt sich eben auch große soziale Sprengkraft, die jederzeit politische Unruhen entzünden kann.

Chinas Probleme wirken auf Europa und Deutschland stärker als auf die USA. Weit kräftiger als amerikanische haben europäische und ganz besonders deutsche Firmen in der letzten Dekade Teile ihrer Wertschöpfungsketten nach China verlagert. Sie haben vermehrt mit Direktinvestitionen Produktionsstätten in Eigenverantwortung oder als joint ventures zusammen mit chinesischen Partnern aufgebaut.

Deshalb führt ein Blick in die Außenhandelsstatistik in die Irre. Er zeigt, dass Deutschland (2014) für 74 Milliarden Euro Güter nach China aus- und für 80 Milliarden Euro Güter aus China einführt. Mithin entsteht ein Defizit von 5,5 Milliarden Euro. Der Eindruck trügt jedoch, dass China deshalb stärker von Deutschland abhängig sei, als es umgekehrt der Fall ist.

Dem deutschen Handelsdefizit von fünfeinhalb Milliarden Euro steht nämlich ein weit höherer Überschuss von fast 50 Milliarden Euro bei den Direktinvestitionen gegenüber. Ein Überschuss, der vor zehn Jahren lediglich gut 12 Milliarden Euro betragen hatte.

Chinesische Firmen produzieren heute immer noch in China für den deutschen Markt, während deutsche Firmen zunehmend in China für den chinesischen Markt produzieren, was die Exporte aus Deutschland nach China entsprechend abschmelzen lässt. Auch deshalb verlieren Handelsstatistiken zunehmend ihre Aussagekraft für bestehende Verflechtungen und Abhängigkeiten.

Die Deutsche Bundesbank hat schon im Juli 2015 abgeschätzt, wie sich ein Kollaps der chinesischen Inlandnachfrage auf den Euro-Raum, Deutschland und die USA auswirken könnte. Das Ergebnis: während die chinesische Krise in den USA keinen Einfluss auf das Bruttoinlandprodukt (BIP) hat, sind Europa gering und Deutschland etwas stärker negativ betroffen.

Dabei vermutet die Bundesbank, dass sie die negativen Wirkungen auf Deutschland eher unterschätzt. So bilden ihre Modellsimulationen keine Verhaltensänderungen ab, die mit einem Vertrauensverlust und steigender Verunsicherung einhergehen – vor allem wenn die geringer werdende Wachstumsdynamik die Verbesserung des Lebensstandards für die Massen verlangsamt, was politische und soziale Spannungen in China auslösen könnte.

Aus deutscher Sicht erweist sich die starke Spezialisierung auf moderne Investitionsgüter und teure Fahrzeuge als spezielles Problem. Der Börsen-Crash dürfte einen finanzmarktinduzierten Abschwung beschleunigen, der vor allem die chinesische Investitions-, Fahrzeug- und Autonachfrage bremsen wird. Weit weniger betroffen wären hingegen Telekommunikationskonzerne und Pharmaunternehmen – also Branchen, die von US-amerikanischen Firmen dominiert werden.

Als Quintessenz ergibt sich, dass sich am China-Geschäft exemplarisch der Unterschied in der Strategie US-amerikanischer und deutscher Firmen veranschaulichen lässt. Deutschland sieht China primär als Absatzmarkt für hochwertige und hochpreisige Investitionsgüter. Hier dürfte die Nachfrage eher schwächer als stärker werden.

Die USA hingegen nutzen China eher als Abnehmer von Dienstleistungen und als Zulieferer von Vorleistungen und Konsumgütern, deren Preise – als Folge der chinesischen Probleme und einem damit einhergehenden Abwertungsdruck – zur Freude amerikanischer Kunden eher fallen als steigen dürften. Auch deshalb werden sich die chinesischen Risiken hierzulande weit bedrohlicher bemerkbar machen als in Amerika.

Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg

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