15. März 2021

Ausreichend Platz für Futteraufnahme, Bewegung und Ruhen sowie die Möglichkeit, Rangkämpfen aus dem Weg zu gehen: Moderne Boxenlaufställe sind auf das Wohlbefinden der Tiere ausgerichtet.

Tierschutz, Tierwohl und moderne Technik im Stall: Wie passt das zusammen?

Landwirtschaftliche Nutztierhaltung führt immer häufiger zu kontroversen Diskussionen. Schnell sind Schlagworte wie „Massentierhaltung“ oder „industrialisierte Tierhaltung“ zu hören. Wenn nun auch noch zunehmend modernste Technik im Stall eingesetzt wird – ist das noch „industrieller“ und damit schlecht? In welchem Zusammenhang steht das mit Tierschutz und Tierwohl? Was bedeuten die modernen Techniken für Mensch, Tier und Umwelt? DIALOG MILCH ist diesen Fragen nachgegangen.

Präzisionstierhaltung, im Englischen „Precision Livestock Farming“, entspricht im Stall dem, was auf dem Feld als Precision Farming oder Präzisionsackerbau bezeichnet wird. Der Begriff sagt im Wesentlichen nur aus, dass zunehmend modernste Technologien und Digitalisierung für die landwirtschaftliche Arbeit zum Einsatz kommen. „Das vorrangige Ziel von Precision Livestock Farming (PLF) ist es, die intensive Tierhaltung ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltiger zu gestalten. Dies kann durch Beobachtung [und] Interpretation von Verhaltensweisen und, wenn möglich, durch individuelles Management der Tiere erreicht werden“. So skizzierten Experten die Ziele bei der Nutzung von Technik und Technologien zum Wohl von Mensch, Tier und Umwelt bei der „9. European Conference on Precision Livestock Farming“ im August 2019[1].

Abgrenzung von Tiergerechtheit und Tierwohl

In der Debatte zur landwirtschaftlichen Tierhaltung werden oft Begriffe wie Tierwohl und Tiergerechtheit genutzt, die aber nicht das gleiche aussagen:

Tiergerechtheit umschreibt die Haltung und das Management im Hinblick auf den Umgang mit dem Tier oder die Fütterung. Bei der Beurteilung der Tiergerechtheit wird danach gefragt, wie sich die Umweltbedingungen auf die Tiere auswirken, bzw. in welchem Maß die Umweltbedingungen die Voraussetzungen dafür bieten, Schmerzen, Leiden und Schäden zu vermeiden und das Wohlbefinden des Tiers zu sichern.

Die „Fünf Freiheiten“ gelten seit den 1980er Jahren als Bezugsgröße für die Beurteilung der Tiergerechtheit. Sie umfassen die

·  Freiheit von Hunger und Durst,

·  Freiheit von haltungsbedingten Beschwerden,

·  Freiheit von Schmerz, Verletzungen und Krankheiten,

·  Freiheit von Angst und Stress,

·  Freiheit zum Ausleben normaler Verhaltensmuster.

Tierwohl ist demgegenüber nicht nur die Abwesenheit von Schmerzen, Leiden und Schäden, sondern hängt von der Möglichkeit des Tiers ab, sich aktiv und erfolgreich mit der Umwelt auseinanderzusetzen und positive Gefühle zu empfinden. Als körperlicher Zustand ist das Tierwohl mit Wohlbefinden gleichzusetzen.

Geräumig, hell und sauber: Auch moderne Boxenlaufställe mit gut eingestreuten Liegeboxen sowie genug Platz für Bewegung und zum Ausweichen sind eine Voraussetzung für Tierwohl im Stall. (Foto: DIALOG MILCH)

Überblick: Tierschutz und Tierwohl im deutschen Recht

Im deutschen Grundgesetz heißt es: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere …“. Die drei Worte „und die Tiere“ wurden allerdings erst im Jahr 2002 hinzugefügt. Das Tierschutzgesetz gibt bereits länger einen Rahmen vor und sagt in § 1: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Neben dem Tierschutzgesetz greift auch die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung den Tierschutz auf und gibt für einzelne Tierarten Vorgaben etwa hinsichtlich Haltung, Fütterung und Betreuung.

In der jüngeren Vergangenheit wird in Deutschland zunehmend diskutiert, ob aus gutem Grund durchgeführte Maßnahmen, wie etwa die Enthornung von Rindern, überhaupt noch statthaft und zeitgemäß sind und welche Alternativen es zu den bisherigen Verfahren geben könnte, die in Praxis und Gesellschaft gleichermaßen Akzeptanz finden. Auf dem Weg zu umsetzbaren Strategien wurde 2019 seitens des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) die „Nutztierstrategie – Zukunftsfähige Tierhaltung in Deutschland“ veröffentlicht. Teil des Prozesses hin zu einer „Nutztierhaltung, die breite Zustimmung in der Gesellschaft findet und ökonomisch gut aufgestellt ist, […] ist auch das staatliche Tierwohlkennzeichen, das es für uns alle einfacher machen soll, selbst Einfluss auf das Thema Tierhaltung zu nehmen. Einfach, indem wir an der Ladenkasse mit unserem Geldschein entscheiden, wie viel uns das Tierwohl wert ist“, heißt es im Vorwort zu der Broschüre des BMEL

Ein Knackpunkt bei dem rechtlichen Rahmen ist sicher, dass Tierschutz und Umweltschutz nicht immer Hand in Hand gehen, sondern zum Teil gegenläufige Maßnahmen erfordern. So heißt es etwa bei der Nutztierstrategie: „Haltungsverfahren mit höherem Tierkomfort beinhalten in der Regel ein größeres Platzangebot für die Tiere und/oder eine freie Lüftung bzw. die Möglichkeit eines Auslaufs sowie Einstreu. Bei einem größeren Platzangebot und Außenklimakontakt ist im Grundsatz davon auszugehen, dass auch die Emissionen – insbesondere Ammoniak – zunehmen. Gegenüber zwangsbelüfteten Ställen mit Abluftreinigung weisen Außenklimaställe insbesondere mit Auslauf höhere Gesamtemissionen auf.“

Schon dieser Aspekt zeigt, dass ein so komplexes Thema wie die Tierhaltung in der Regel weder einfache Antworten noch allgemein „richtige“ Strategien zulässt. Die Broschüre zur Nutztierstrategie führt dazu aus: „Im Spannungsfeld Tierwohl – Umweltschutz liegt eine besondere Herausforderung für Tierhalter. In nicht auflösbaren Fällen von gegensätzlichen Interessen muss das Vorrangprinzip dem Tierschutz und nicht dem Umweltschutz gelten.

Wenn Lage und Flächenausstattung des Betriebs das ermöglichen, sind die Tiere zum Teil vom Frühjahr bis in den Herbst mehrere Stunden täglich auf der Weide.

„Precision Livestock Farming“ auf Milchviehbetrieben

Entsprechend dem eingangs genannten Ziel, „die intensive Tierhaltung ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltiger zu gestalten“, setzt Precision Livestock Farming an ganz unterschiedlichen Stellen an. Erste Technologien stammen bereits aus den 1970er Jahren. Als Entwicklungsschritte sind beispielsweise zu nennen: die automatische Fütterung noch ohne Erkennung des Einzeltiers, elektronische Tieridentifikationssysteme, stalltaugliche Sensoren, standardisierte Datenprotokolle, Vernetzung der Stalltechnik, Milchanalysen und Auswertung in Echtzeit sowie Programme für das digitalisierte Gesundheits-, Fruchtbarkeits- und Herdenmanagement.

Ein Merkmal vieler „digitaler“ Instrumente ist die damit möglich gemachte höhere Genauigkeit, die zumeist auch mit einer höheren Effizienz der genutzten Ressourcen einhergeht. Damit wird es sehr viel gezielter möglich, dem Bedarf der Tiere gerecht zu werden, Ressourcen effizienter und damit umweltschonender zu nutzen, zugleich schwere körperliche Arbeiten zu automatisieren und die Wirtschaftlichkeit der Milchkuhhaltung zu verbessern.

Inzwischen geht die Entwicklung über das Precision Livestock Farming hinaus hin zum sogenannten Smart Livestock Farming: „Mit Hilfe sehr informationsintensiver Technologien, wie z.B. Sensorfusion [Anm.: d. h. der Verknüpfung von Daten unterschiedlicher Sensoren] und autonomen, selbstlernenden Netzwerken, zielt Smart Livestock Farming auf kontextsensitive Steuer- und Regelungssysteme [Anm.: also Systeme, die automatisch auf sich ändernde Rahmenbedingungen reagieren], Automatisierung und Robotik, intuitive Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Es speist Management bzw. Entscheidungshilfesysteme für die gesamte Prozesskette und deren transparente Dokumentation.“ Dabei werden smarte Produkte als Geräte charakterisiert, „die schlauer erscheinen als der Nutzer, indem sie Antworten liefern, noch bevor die Fragen gestellt werden.“ Was fast wie eine „eierlegende Wollmilchsau“ klingt, wird in einem weiteren Beitrag beleuchtet.

Immer frisches, hochwertiges Futter auf dem Futtertisch gehört zum Tierwohl dazu und ist eine Voraussetzung für hohe Leistungen. (Foto: DIALOG MILCH)


Kuhbürsten sorgen für „Wellness“ im Stall.

[1] Tullo, E., A. Finzi and M. Guarino, 2019: Precision Livestock Farming as a mitigation strategy for livestock farming environmental impact: a review. In: O’Brien, B., D. Hennessy und L. Shalloo (Hrsg.): Precision Livestock Farming ’19, Papers presented at the 9th  European Conference on Precision Livestock Farming, Cork, Ireland, 26-29 August ’19

Weitere Artikel zu diesem Thema finden Sie hier:

https://www.dialog-milch.de/auf-dem-weg-zu-smart-livestock-farming

https://www.dialog-milch.de/melkroboter-wenn-die-kuh-entscheidet-wann-melkzeit-ist