26. Februar 2019

Tierwohl in der Milchviehhaltung: Einschätzung aus Sicht eines Tierarztes

Tierarzt Nico Beckers-Schwarz

Seit 1997 ist Nico Beckers-Schwarz als Tierarzt in der Rinderpraxis Land VET in Much im Bergischen Land tätig. Dort kümmert er sich u. a. um die Bestandsbetreuung, um Herdenmedizin, Fruchtbarkeitsservice und die Fütterungsberatung. So betreut er unter anderem auch die beiden Betriebe Höller bei Lindlar und Bützler bei Bad Münstereifel, über die DIALOG MILCH gerade erst berichtet hat. (https://www.dialog-milch.de/massentierhaltung-tierwohl/) Sich für Tiergesundheit und Tierwohl einsetzen zu können, motiviert Nico Beckers-Schwarz jeden Tag aufs Neue. DIALOG MILCH hat ihn gefragt, wie es um das Tierwohl in den Milchviehställen, die er kennt, bestellt ist. Was ist erreicht, was kann besser werden – und was haben die Betriebsgröße und die Zahl der Milchkühe mit Tierwohl zu tun?

DIALOG MILCH: Herr Beckers-Schwarz, wie sieht es generell beim Thema Tierwohl in den Milchviehbetrieben aus, die Sie und Ihre Kollegen/Innen betreuen?

Nico Beckers-Schwarz: Grundsätzlich ist das Wort Tierwohl schwer definierbar. Tiere, die gute „Leistungen“ erbringen, können dies nur unter guten bzw. unter solchen Bedingungen tun, unter denen sie sich „wohl“ fühlen. Das heißt, dass erfolgreich wirtschaftende Betriebe mit guten Milch-, Zucht- und Mastleistungen heute wie früher alles tun, was nach wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Möglichkeiten für ihre Tiere machbar ist.

DIALOG MILCH: Gibt es nach Ihrer Einschätzung heute mehr Tierwohl als bei früheren Haltungsformen?

Nico Beckers-Schwarz: Ja, deutlich mehr! Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Entwicklung weitergeht – und das, was früher gut war, heute nicht mehr Stand der Technik ist bzw. den heutigen Erkenntnissen von Forschung und Wissenschaft entspricht. Es ist abzusehen, dass es uns in einigen Jahren mit Blick auf die heutige Situation genauso ergehen wird: Die Entwicklung bleibt nicht stehen und weitere Verbesserungen werden auch zukünftig möglich sein.

DIALOG MILCH: Sehen Sie auch Bereiche, in denen es früher besser war?

Nico Beckers-Schwarz: Es war früher nicht besser, aber dem damaligen Wissen und den Möglichkeiten entsprechend zum Teil auch nicht schlechter als heute!

DIALOG MILCH: Lässt sich ein Zusammenhang zwischen der jeweiligen Betriebsgröße bzw. der Zahl der gehaltenen Milchkühe und dem erreichten Stand beim Thema Tierwohl erkennen?

Nico Beckers-Schwarz: Nein! Es liegt immer in der Hand des Landwirts, wie und ob er es seinem Vieh „wohl“ ergehen lässt. Nur optimal gehaltene Tiere sind bereit, Leistungen zu erbringen – das kennen wir auch aus dem Hochleistungssport. Außerdem bereitet schon die Definition von „groß und klein“ die ersten Probleme. Sprechen wir einmal pauschal von „großen“ Betrieben – einmal unabhängig davon, was groß bedeutet – so sind „große“ Betriebe nicht groß geworden, weil sie ihre Arbeit schlecht gemacht oder ihre Tiere schlecht gehalten haben. Sie sind groß geworden, weil sie ihre Arbeit mit dem Vieh und dem Boden gut bzw. sehr gut gemacht haben! Das heißt aber nicht, dass „kleine“ Betriebe schlechter wären, weil sie bewusst kleiner geblieben sind – sie sind nur ganz gezielt mit dieser Betriebsgröße zufrieden oder hatten keine Möglichkeit zum Wachstum. Im Klartext heißt das: Groß ist nicht besser als klein und umgekehrt – und das trifft in der Milchviehhaltung in besonderer Weise zu!

DIALOG MILCH: Welche Entwicklungen erwarten Sie mit Blick auf das Tierwohl in der Zukunft – auf den Milchviehbetrieben, bei Molkereien, beim Lebensmitteleinzelhandel und bei den Verbrauchern?

Nico Beckers-Schwarz: Tierwohl lässt sich ständig verbessern. Forschung und Wissenschaft geben uns kontinuierlich Ideen dazu. Investitionen in Tierwohl über das „übliche“ Maß hinaus sind dem Landwirt aber nur möglich, wenn er auch für sich selbst ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften kann. Ist dieses Einkommen gesichert, ist der Landwirt eine „Spezies“, die gerne auch in Maßnahmen zum „Wohl“ seiner Tiere investiert. Beispiele sind etwa neue, größere Tränken, Bürsten oder Lüfter… ABER dafür müssen den Landwirten durch den Erlös an ihren Produkten auch die finanziellen Möglichkeiten gegeben werden. Somit haben der Lebensmitteleinzelhandel und die Verbraucher das Tierwohl in der Hand. Die deutsche Mentalität „GEIZ ist GEIL“ ist auch bei Lebensmitteln der Tierwohlkiller schlechthin.

DIALOG MILCH: Herr Beckers-Schwarz, vielen Dank für das interessante Gespräch und Ihre offenen Worte!