12. Juni 2017

Zwischen betrieblicher Praxis und gesellschaftlicher Wahrnehmung

Die ersten gemeinsamen Stunden und Tage sind bei den Menschen prägend für die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Diesen Umgang mit dem eigenen Nachwuchs überträgt die Gesellschaft auch auf die Tierwelt – und sieht deshalb die in der landwirtschaftlichen Praxis weitgehend übliche Trennung von Kuh und Kalb schon kurz nach dem Abkalben kritisch. In der betrieblichen Praxis haben Milcherzeuger jedoch gute Gründe, die für dieses Vorgehen sprechen.

Die überwiegend ablehnende Haltung der Gesellschaft wird in einer Studie[1] deutlich, bei der sich rund 83 Prozent der Befragten in Deutschland gegen eine frühzeitige Trennung von Kuh und Kalb aussprachen. In einer Pressemeldung der Universität Göttingen vom 27.03.2017 heißt es unter Bezug auf die Studie: „44 Prozent der Befragten fanden es schwierig, Argumente für oder gegen die Trennungspraktik zu bewerten, bevorzugten aber eher eine spätere Trennung. 39 Prozent befürworteten deutlich eine spätere Trennung, etwa 18 Prozent sprachen sich für die heute übliche frühe Trennung aus.“[2].

Auch wenn die frühe Trennung von Kuh und Kalb gute Gründe hat und deswegen in der Praxis vorherrscht, suchen einige Betriebe nach Alternativen, um die gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen.

Welche Alternativen gibt es?

In einem Beitrag in der Fachzeitschrift Applied Animal Behaviour Science[3] werden beispielhaft vier Verfahren als Alternativen zu der konventionellen frühzeitigen Trennung von Kuh und Kalb untersucht und diskutiert. Dazu zählen neben Systemen mit uneingeschränktem Kontakt zwischen Kuh und Kalb der nur kurzzeitige tägliche Kontakt zum Säugen, der Kontakt halbtags über Tag oder in der Nacht, oder als vierte Variante die Ammenkuhhaltung, bei der eine Kuh bis zu vier Kälber säugt und nicht mehr gemolken wird.

Was spricht für die frühe Trennung?

Für den Großteil der Milcherzeuger sprechen zahlreiche Argumente für die Praxis der frühen Trennung von Kuh und Kalb. So ist beispielsweise bei einer frühen Trennung noch kein ausgeprägter Trennungsschmerz oder Stress bei Kuh und Kalb zu beobachten.[4] Je später die Trennung erfolgt, desto stärker sind die entstandene Bindung und der aus der Trennung resultierende Stress. Bei manchen Kälbern ist bei der Mutter- oder Ammenkuh-Haltung eine zu hohe Milchaufnahme zu beobachten, was sich durch starke Durchfälle äußern kann. Ebenso hat sich gezeigt, dass die Tageszunahmen der Kälber nach dem Absetzen, das heißt nach Ende der Säugephase und der Trennung von der Kuh, stärker zurückgehen können als bei der konventionellen Aufzucht.

Die frühzeitige Trennung von Kuh und Kalb bietet noch eine Reihe weiterer Vorteile. Dazu gehört neben den vereinfachten betrieblichen Abläufen insbesondere auch, dass nach der Kolostralmilch, die in den ersten Tagen extra gemolken und an die jungen Kälber verfüttert wird, unterschiedliche Milchaustauscher zum Einsatz kommen, die zusammen mit dem schon ab Ende der ersten Lebenswoche angebotenen Heu optimal auf den Nährstoffbedarf der Kälber abgestimmt werden können.

Bleiben und saugen die Kälber dagegen länger bei Mutter- oder Ammenkühen, kann der Fettgehalt zu Beginn der Milchaufnahme zu gering und zum Schluss, bei dem sogenannten Endgemelk, zu hoch sein. In beiden Fällen ist die Ernährung der betroffenen Kälber nicht optimal. Hinzu kommt, dass die Kälber bevorzugt nur an ein oder zwei Zitzen saugen und die Kühe größere Mengen Restmilch behalten, selbst wenn sie nach dem Säugen der Kälber noch gemolken werden.

Was spricht gegen die frühe Trennung?

Einige Milchviehhalter testen Verfahren, bei denen die Kälber länger bei ihren Müttern bleiben.

Nach den in der Praxis bisher gesammelten Erfahrungen können damit einige positive Effekte verbunden sein. Dazu gehört zunächst ein weitgehend artgemäßes Verhalten von Kuh und Kalb. Durch die frische und warme Milch mit den darin enthaltenen Immunglobulinen, die von der Kuh aufgrund der im Stall vorhandenen Keime gebildet werden, scheint das Risiko von Erkrankungen der Kälber etwas geringer als in der konventionellen Aufzucht. Ebenso werden in dem Merkblatt des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FIBL) höhere Gewichtszunahmen der Kälber in der Saugphase, ein früheres Erstkalbealter sowie eine höhere Milchleistung in der ersten Laktationsperiode als mögliche Vorteile genannt.

Auch ein besseres Sozialverhalten der so aufgezogenen Tiere, eine tendenziell bessere Eutergesundheit der Mutterkühe und deren insgesamt höhere oder zumindest gleich hohe Milchleistung im Vergleich zu Kühen, die ausschließlich gemolken werden, gehören laut den Erfahrungen aus der Praxis zu den Effekten, die bei einer mutter- oder ammengebundenen Aufzucht möglich sind.

Fazit

Es gibt derzeit wohl keinen Königsweg, der natürliche Verhaltensweisen, Tierwohl und betriebliche Anforderungen in optimaler Weise zur Deckung bringt. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Wahrnehmung und die auch in der Landwirtschaft selbst erkennbaren Ansätze macht es zweifellos Sinn, sich auch weiterhin mit Alternativen zu befassen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die weitaus meisten Milcherzeuger bislang mit der frühzeitigen Trennung von Kuh und Kalb gute Erfahrungen machen.

Lesen Sie hier ein Interview mit Doris Berbecker, die als Milcherzeugerin aus Halver in Nordrhein-Westfalen von ihren Erfahrungen mit der Trennung von Kuh und Kalb berichtet.

[1] http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0174013

[2] Anonym, 2017: Umdenken in der Milchviehhaltung? Forscher untersuchen öffentliche Meinung zur frühen Trennung von Kühen und Kälbern. Presseinformation der Georg-August-Universität Göttingen, Nr. 54/2017 – 27.03.2017, http://www.uni-goettingen.de/de/3240.html?cid=5776, Seite zuletzt besucht am 26.04.2017.

[3] Johnsen et al., 2016: Is rearing calves with the dam a feasable option for dairy farms?–Current and future research. In: Applied Animal Behaviour Science 181 (2016) 1–11.

[4] FIBL, 2015 (Hrsg.): Mutter- und Ammengebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung. Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FIBL), 3. Überarbeitete Auflage, Frick, Schweiz.

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